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«Die
Welt lebt bereits im Notstand; nur will das niemand wahrhaben. Es
sind keine Geister der Zukunft, die ich beschwöre, sondern
ein Zustand, der bereits existiert. Wir gehen einer explosiven
Interaktion aller unserer Sünden entgegen: der Sünden,
die wir gegen unser geistiges und materielles Erbe begangen
haben. Nach unseren Berechnungen geht es mit der Welt vor dem
Jahre 2100 rapide abwärts. Tod und Entbehrungen werden auch
bei uns Millionen Menschen erfassen. Da wir fünfzig bis
hundert Jahre brauchen, um entsprechende Veränderungen
herbeizuführen, müssen wir handeln –
sofort.»
Diese Worte sprach kein Prophet und kein
linker Gesellschaftskritiker, sondern der eminente italienische
Manager Aurelio Peccei, Fiat-Verwaltungsdirektor und einstmals
Generaldirektor des Schreibmaschinenkonzerns Olivetti. Die
Berechnungen, von denen er sprach, wurden vom Club of Rome in
Auftrag gegeben, einem Zusammenschluß von siebzig Managern
aller Industrienationen; sie wurden von der Volkswagen-Stiftung
finanziert und auf einem Megacomputer in den USA durchgeführt,
mit einer gewaltigen Menge von Variablen. Alle Ergebnisses waren
gleich niederschmetternd. Sie können (vereinfacht) von der
Graphik abgelesen werden, die am Ende dieses Buches eingefügt
ist.
Peccei ist kein Theologe, Prophet oder Historiker.
Das bekanntgegebene Ziel des Club of Rome ist es, politische und
wirtschaftliche Führer der Welt durch die Ergebnisse der
Prognostik zu sinnvollem Handeln anzuregen. Aber dieser Aufruf zu
sofortigem Handeln muß wirkungslos bleiben, wenn es sich
auf pragmatischen Reformismus beschränkt. Die Fakten, von
denen die Berechnung ausgeht, wurden und werden von Menschen
geschaffen; Menschen, die aus bestimmten historischen und
ideellen Voraussetzungen handeln und gehandelt haben. Werden die
Wurzeln dieser historischen und ideellen Haltungen nicht
freigelegt, werden die notwendigen Vorschläge immer auf
politischen und gesellschaftlichen Widerstand stoßen; und
nur wenn man sich klarmacht, wie tief diese Wurzeln in unseren
kollektiven Untergrund hinabreichen, wird der notwendige, das
heißt der radikale und höchst schmerzvolle Prozeß
einer planetarischen Revolution (um eine solche geht es)
eingeleitet werden können.
Im folgenden wird der
Versuch gemacht, zu zeigen, daß der gegenwärtige
Weltzustand durch einen weltweiten Konsens herbeigeführt
worden ist. Dieser Konsens entstand durch die restlose Übernahme
und Verinnerlichung einiger Leitvorstellungen der
jüdisch-christlichen Tradition. Mit anderen Worten: es gibt
eine christliche Geschichte, an der wir alle teilhaben, wobei
«wir» fast alle artikulierten Gegner des Christentums
und der Kirchen miteinschließt. Diese Geschichte hatte
segensreiche und gnadenlose Folgen. Es ist nicht der Sinn dieser
Arbeit, die segensreichen Folgen zu leugnen (was sich im
einzelnen zeigen wird); notwendiger jedoch ist das Erkennen der
gnadenlosen Folgen, die uns alle betreffen.
Das
Christentum war also erfolgreich; viel erfolgreicher, als selbst
seine professionellen Verteidiger zu behaupten pflegen. Und es
verdankt diesen Erfolg nicht in erster Linie seinen Getreuen,
sondern seinen Häretikern und Abtrünnigen, ja seinen
aufgeklärten humanistischen, liberalen, marxistischen
Feinden. Der Erfolg des Christentums besteht in seiner wirksamen
Teilnahme am Aufbau eines Machtpotentials, das in den letzten
Jahrhunderten insbesondere den Verlauf der Weltgeschichte
bestimmt hat. Es hat sich auf dem geographischen und historischen
Boden des Christentums entfaltet, was selbstverständlich
kein Zufall ist. Es hat in der Unterwerfung fremder Kulturen, in
der Durchsetzung seiner eigenen Denk- und Aktionsformen, in der
Beherrschung der Natur alle bisher bekannten Mächte weit
übertroffen und ist dabei, diesen Sieg in der Form der
sogenannten Welt-Zivilisation zu konsolidieren. Dieser Sieg ist
aber nichts anderes als die notwendige Voraussetzung für die
Unglückskurve des großen Computers.
Spätestens
hier ist eines klar: es geht nicht um Erfolg oder Mißerfolg
der Botschaft Jesu. Es geht nicht um Erfolg oder Mißerfolg
der Kirchen, der Theologie, des christlichen Sittengesetzes. Denn
gerade die Felder, auf denen das Christentum Erfolg
konstituierte: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft – konnten
und durften die ersten Christen weder von der Sache noch von der
Methode her interessieren. Zweifellos wäre die Welt von
heute im Urteil der ersten Christen ein totaler Mißerfolg,
ja ein düsterer Triumph des Feindes. Aber «Erfolg»
als Begriff hat sich ja längst verselbständigt: dieses
Buch zum Beispiel wird in den Augen der Öffentlichkeit nicht
dann ein Erfolg sein, wenn es den Zustand der Welt in seinem
Sinne verändert, sondern wenn es sich auf dem Markt
durchtsetzt. Mit anderen Worten: nicht das Erreichen
ursprünglicher Ziele und Absichten ist das landläufige
Kriterium des Erfolgs, sondern die Effizienz in der Durchsetzung
gegenüber anderen Kräften. Das Christentum hat –
als Bewußtseinszustand oder Bewußtseinskomponente
eines großen und aktiven Teils der Menschheit – die
Welt verändert, beziehungsweise half sie verändern. Das
war seine Effizienz, seine Wirkkraft; und diese Wirkkraft reicht
über die Grenzen des christlich-kirchlichen
Selbstverständnisses hinaus.
Da diese Arbeit das
Christentum als Faktor der Weltveränderung bewußt
anerkennt, aber eben diese Weltveränderung kritisiert, setzt
sie sich bewußt von folgenden üblichen und
traditionellen Betrachtungsweisen ab:
erstens –
der kirchlich-konservativen. Diese sieht den historischen Prozeß
der letzten Jahrhunderte als einen betrüblichen Abfall von
der ewigen Wahrheit und ihren bestellten Hütern, sieht die
unmenschlichen Aspekte unserer Existenz als gerechte Quittung für
diesen Abfall und ist also über die Unglücksprognosen
der neueren Futurologie weiter nicht erschrocken;
zweitens
– der aufklärerisch-antichristlichen verschiedener
Spielart. Diese sieht im Christentum nichts als eine bestimmte,
vielleicht nicht ganz schwarze, aber doch sehr dunkle Erbschaft
der Unmündigkeit, ein Gefäß alter Ängste vor
Jenseits, Hinterwelt und unerklärlichen Kräften, als
Herrschaftsinstrument zur Fortführung
vorgeschichtlich-unmenschlicher Zustände, und läßt
die Menschwerdung des Menschen grundsätzlich erst mit dem
Ende der Kirchenmacht beginnen;
drittens –
der christlich-progressistischen. Diese Interpretation, der fast
alle neueren Theologen, aber auch marxistische Denker wie Ernst
Bloch zuneigen, stülpt die historische Sicht der
Konservativen gleichsam um, definiert die faktische innere und
organisatorische Entwicklung des institutionellen Christentums
als Abfall oder Mißdeutung der ursprünglichen
Botschaft und die Säkularisierung der Welt (die secular
city des Harvey Cox) als notwendige Voraussetzung für
ein ursprüngliches, in seinen wahren Absichten
wiederhergestelltes Christentum.
Diesen Betrachtungsweisen
ist – bei aller Differenzierung – eines gemeinsam:
sie interpretieren das Christentum und seine Folgen letztlich
nicht als weltlichen Gegenstand, sondern als Kampf zwischen Licht
und Finsternis – wobei Licht und Finsternis je nach
Standpunkt verteilt werden. Aus dem geheimnisvollen Nirgendwo
schlagen und schlugen die Dämonen zu: Satan, die
Herrschaftsstrukturen, der kollektive Odipus-Komplex – und
ruinieren oder gefährden den lichten Bauplan der Geschichte.
Unsere Betrachtungsweise wird grundsätzlich von dergleichen
absehen. Die Botschaften der beiden Testamente, das Kirchenwesen,
die Theologien und Frömmigkeitsrichtungen und – vor
allem – die daraus erwachsende Praxis werden Teil unseres
Gegenstandes sein, aber als Funktionen, nicht als Plus- und
Minuspunkte einer geschichtsphilosophischen Beurteilung. Der
konservative wie der progressistische Feinschmecker der
Kirchenkritik wird daher vergebens nach parteilichen Angriffen
auf Doktrinen, Glaubensüberzeugungen, Aktionsmethoden
suchen; sie waren, was sie waren, und sind, was sie sind: Posten
der Bilanz, die wir aufstellen wollen. Weder wird Franz von
Assisi benutzt, um Torquemada zu entschuldigen, noch werden
Konstantin oder Pius XII. als Agenten des altbösen Feindes
entlarvt; weder für Schandpfähle noch für
Altarpodeste werden Kandidaten gesucht.
Dem Leser wird
also letzten Endes der Standpunkt empfohlen, den ein
unvoreingenommener nichteuropäischer (oder außerirdischer)
Beobachter einnehmen dürfte. Dieser wird das Christentum als
Teil einer sehr aggressiven, unaufhaltsamen Macht beurteilen, die
sich seit ein paar Jahrhunderten mit Missionaren und
Kanonenbooten, mit Faktoreien und Impfstationen, mit Banken,
Napalm und Entwicklungshelfern über den Rest des Planeten
hergemacht hat. Der liberale oder der christliche Offizier, der
atheistische oder der calvinistische Pflanzer werden für ihn
kaum unterscheidbare lndividualitäten sein; und in vielen
Fällen wird er kaum feststellen können, ob gewisse
gesellschaftliche Transformationen aus christlichen oder
marxistischen Impulsen entstehen.
Ist eine solche Sicht
von außen legitim? Sie ist nicht nur legitim, sie ist
unbedingt notwendig für unser Thema. Nicht die erbitterten
Querelen zwischen Römischen und Utraquisten, zwischen
Stalinisten und Trotzkisten verändern das Leben der Welt,
wie sie das Leben unserer Vorfahren und Zeitgenossen verändern,
sondern ihre Gemeinsamkeiten; nicht die Anhänger der einen
oder anderen Konfession, Sekte oder antichristlichen Gruppierung
haben den Traktor, die Stechuhr und den Röntgenschirm
erfunden, sondern die Erben und Akteure einer gemeinsamen
Erfolgsgeschichte, die heute, auf dem Höhepunkt ihrer
Triumphe, in die totale Katastrophe abzukippen droht.
Damit
ist das Programm des Buches gegeben; und mit dem Programm seine
sogenannte Zielgruppe. Angesprochen sind alle, welche die
Grundvorstellungen der judäisch-christlichen Tradition
übernommen und verinnerlicht haben; angesprochen und
aufgefordert, diese Grundvorstellungen einer leidenschaftlichen
Reflexion zu unterwerfen. Nicht der «Dialog» auf der
Basis gemeinsamer Oberzeugungen wird angestrebt, sondern der
Dialog auf der Basis gemeinsam zu revidierender Überzeugungen.
Die Revision muß erfolgen, weil diese Überzeugungen in
kausalem Zusammenhang mit der grausamen Kurve stehen, die der
Prophet an die Wand geschrieben hat. Die Tradition, um die es
geht, dieses gemeinsame Erbe der Vorstellungen und Überzeugungen
ist heute weit wirksamer in weltlichen Mächten als im
verfaßten Christentum; wirksamer im Deutschen Industrie-
und Handelstag, im Zentralkomitee der KPdSU, im Pentagon und in
den Formationen der Technokratie als etwa im Vatikan oder im
Weltkirchenrat.
Die zentralen Fragen für uns lauten
also:
– Welche Vorstellungen der
judäisch-christlichen Tradition haben sich im
Kräfteparallelogramm der Geschichte durchgesetzt?
–
Auf wessen Kosten erfolgte diese Durchsetzung? – Und vor
allem:
– Welcher Kritik müssen sie heute, im
Kampf um das Jahr 2050 oder 2100, unterworfen werden?
Zum
Schluß noch eine Bemerkung, die eigentlich überflüssig,
aber beim infantilen Zustand unseres Geistesbetriebs leider doch
angezeigt ist: der gleiche Verlag hat vom gleichen Verfasser anno
1963 eine Streitschrift herausgebracht, die sich gegen den
westdeutschen Katholizismus richtete. Sie hat beträchtliche
Aufregung erzeugt, welche den Verfasser doch recht nachdenklich
machte (was vielleicht die ersten Schritte auf seinem
gegenwärtigen Weg bedingte). In vielen Punkten ging die
Streitschrift von Überzeugungen aus, die der Verfasser
arglos mit den sogenannten «progressiven» Christen
teilte, und die im folgenden relativiert oder zurückgenommen
werden. Die «Kapitulation» von 1963 war gegen einen
Katholizismus gerichtet, der (wenigstens scheinbar) noch im
Mittelpunkt der gesellschaftlichen Kräfte Westdeutschlands
stand. Das hat sich äußerlich vielleicht nicht sehr,
innerlich aber sehr gründlich geändert. Es ist deshalb
nur folgerichtig, daß von dieser Sorte Kritik im folgenden
nichts oder fast nichts mehr zu finden ist. Der Letzte, der dem
schwerkranken Löwen der Fabel einen Hufschlag versetzt, ist
der Esel. Er weiß noch nicht, daß kräftigere
Raubtiere unterwegs sind – oder er wagt sich nicht an sie
heran. Auf jeden Fall hätte ein solcher Esel seinen Beruf
verfehlt, wenn er Schriftsteller geworden wäre.
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